Katerina Poladjan: Goldstrand

   Kino auf der Couch

Rom 2024. Auf der Couch der Dottoressa Maltesta in einer Altbauwohnung liegt seit viereinhalb Monaten zweimal wöchentlich der 62-jährige Filmregisseur Elia Fontana, genannt Eli. Seinen letzten Film hat er vor zehn Jahre gedreht. Nun ersetzt ihm die Therapeutin das Publikum, wenn er aus seinem Leben erzählt. Oder sind es nur Fantasien?

Der fehlende Vater ist die große Leerstelle in Elis Leben. Seine Mutter Francesca, eine Kommunistin aus großbürgerlicher italienischer Familie, war 1961 von einer Reise zum sozialistischen Großprojekt Goldstrand an der bulgarischen Schwarzmeerküste schwanger zurückgekehrt und hatte den Erzeuger ihres Kindes, einen aus der Ukraine stammenden Bulgaren namens Felix, nie wiedergesehen. Den zweijährigen Eli ließ sie bei ihrem zeitlebens vom Faschismus überzeugten Vater und ihrer schwachen Mutter zurück. Umso erstaunlicher scheint es, was Eli über seinen Vater zu berichten weiß. Er soll 1922 als Sechsjähriger mit seinem Vater Lew, einem Philosophieprofessor, aus Odessa geflohen sein, sich als Architekturstudent in Sofia dem Kommunismus angeschlossen haben und verantwortlich für den Bau von Goldstrand sein, einem „Musterbeispiel sozialistischer Erholungsarchitektur“ (S. 38). Wahrheit? Fiktion? Und was ist mit Vera, Felix‘ älterer Schwester, die sich auf der Flucht ins Schwarze Meer gestürzt haben soll, ein nie verwundenes Trauma für Lew und Felix, das Eli übernommen hat? Eli hat ihr Verschwinden in einem Film verarbeitet und seine Tochter nach ihr benannt, aber ist nicht auch dieses transgenerationale Trauma Fiktion?

Katerina Poladjan: Goldstrand. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © S. Fischer.

Realität und Fiktion
Katerina Poladjan
, 1970 in Moskau geborene und seit Ende der 1970er-Jahre in Deutschland lebende, vielfach preisgekrönte Autorin, streift in ihrem sechsten Roman durch 100 Jahre europäische Geschichte und verbindet Ost und West in der Biografie ihres Protagonisten in gerade einmal 156 Seiten. Formal geben die klar strukturierten und ritualisierten Therapiesitzungen den Rahmen der ersten sechs Kapitel vor, die zugleich stark an filmische Sequenzen erinnern. Leise schleichen sich in den Text surreale Szenen ein, die bei mir zunächst Erstaunen, dann immer mehr Misstrauen auslösten. Im abschließenden siebten Kapitel verschwimmen Realität und Fiktion endgültig. Nun wird der Typus des unzuverlässigen Erzählers, der in diesem Fall ein professioneller Geschichtenerfinder ist, auf die Spitze getrieben, wie ich es nie vorher erlebt habe. Aber ist das verwunderlich bei einem Roman, der auf der berühmten, von einem italienischen Architekten aus Trienter Sandstein erbauten Potemkinschen Freitreppe in Odessa beginnt, deren Konstruktion ganz auf perspektivische Wirkung angelegt ist?

Ein kunstvolles literarisches Spiel
Überraschend leicht lässt sich der Roman lesen, trotz der Verschachtelung, der zahlreichen Bezüge zur griechischen Mythologie, zur Literatur und zur Philosophie, der Symbole, deren stärkstes der titelgebende Goldstrand ist, und dem Spiel mit Namen, selbst wenn man längst nicht alles erfasst. Der Ton schwankt zwischen Melancholie und Heiterkeit, letzteres vor allem in den Dialogen.

Was am Ende Realität, was Erinnerung, was Film und was reine Fiktion ist, bleibt der Einschätzung der Leserinnen und Leser überlassen und bietet reichlich Diskussionsstoff. Es bleibt neben starken Frauenfiguren das Bild eines einsamen, beziehungsunfähigen Mannes, geprägt von den Verwerfungen eines Jahrhunderts, eines in der Vergangenheit verharrenden Protagonisten auf der Suche nach den eigenen Wurzeln und der eigenen Identität, den nicht einmal seine Mutter versteht:

Warum musst du so bohren? Es gibt keine Geschichte vor deiner Geburt, es gibt keine Geschichte nach deiner Geburt […]. Die Geschichte bist du selbst, du brauchst keine Beglaubigung, du brauchst sie nicht, Eli. (S. 136)

Katerina Poladjan: Goldstrand. S. Fischer 2025
www.fischerverlage.de

Gaea Schoeters: Das Geschenk

   Wohin mit 20.000 Elefanten?

2006 wurde der Braunbär Bruno in Deutschland zum Politikum. Die bayerische Staatsregierung erklärte ihn zum „Problembären“ und gab ihn unter großer medialer Anteilnahme zum Abschuss frei.

Von anderer Tragweite sind die Schwierigkeiten von Bundeskanzler Hans Christian Winkler im Roman Das Geschenk der flämischen Autorin Gaea Schoeters, denn wie von Zauberhand tauchen in Berlin plötzlich 20.000 afrikanische Elefanten auf. Ein Anruf des botswanischen Präsidenten schafft Klarheit: Die Dickhäuter sind weder Terroranschlag noch Spionageangriff, sondern die Antwort auf das vom Bundestag mit deutlicher Mehrheit verabschiedete sogenannte „Elfenbeingesetz“, das die Bedingungen für den Import exotischer Jagdtrophäen beträchtlich verschärft. Das tierische Geschenk ist vergiftet:

Ihr Europäer wollt uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Vielleicht solltet ihr einfach mal selbst versuchen, mit Megafauna zurechtzukommen. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, Deutschland zwanzigtausend Elefanten zu schenken. (S. 34)

Liquidieren oder einsperren ist keine Option:

Jeder Elefant, dem auch nur ein einziger Stein in den Weg gelegt wird, wird sich verdoppeln. […] Alles für die Elefanten. (S. 35)

Gaea Schoeters: Das Geschenk. Fotos: © M. & M.A. Busch. Bearbeitung mittels Photopea u. Collage: © K. Pape & B. Busch. Cover: © Zsolnay.

Die Rechtspopulisten im Nacken
Winklers Hoffnung, sein Image durch medienwirksame Krisenbewältigung aufzubessern und damit den rechtspopulistischen Konkurrenten Holger Fuchs bei den anstehenden Wahlen in Schach zu halten, zerplatzt wie eine Seifenblase. Stattdessen ergeht man sich im Krisenstab in Macht- und Ränkespielen und steht hilflos den 2000 Tonnen Elefantenfäkalien pro Tag gegenüber, für deren Treibhausgase die nötigen Emissionszertifikate im schlimmsten Fall für viel Geld von Botswana erworben werden müssen, kämpft mit der Beschaffung von Wasser und Futter, demonstrierenden Müllwerkern und Bauern, Massenkarambolagen, Verwüstungen und höchst invasiven Pflanzen. Die Öffentlichkeit schwankt zwischen gefühliger Euphorie für ein neugeborenes Elefantenbaby, hysterischer Ablehnung und Unterstützung für Holger Fuchs, der sich mit Hilfe der Elefanten zunehmend profiliert. In seiner Not und auf Anraten seiner Vorgängerin beruft Winkler eine Ministerin für Elefantenangelegenheiten und verlagert die Verantwortung auf die taffe schwäbische Parteigenossin Hannelore Hartmann:

Männer bekommen meistens in stabilen Unternehmen oder Situationen Führungsposten, Frauen werden nur in Krisenzeiten solche Spitzenjobs angeboten. (S. 66)

Die neue Ministerin sprüht vor Tatendrang, stellt strenge Verhaltensregeln auf, ruft Elefantenquoten für die Bundesländer aus, lässt aus Exkrementen exklusiven Dünger für den Weltmarkt produzieren und radikalisiert sich auf ihre Weise – alles für die Elefanten!

Eine Politsatire mit realem Hintergrund
Als der botswanische Präsident Mokgweetsi Masisi am 2. April 2024 die Ankündigung machte, 20.000 Elefanten nach Deutschland zu schicken, hielten viele das für einen verspäteten Aprilscherz. Tatsächlich hatte die ebenso provokante wie absurde Ankündigung einen ernsten Hintergrund: die Überforderung seines Landes durch die zunehmende Elefantenpopulation und die postkoloniale Überheblichkeit des Westens. Gaea Schoeters, 1976 geborene Tochter eines belgischen Politikers, hat die Idee als Steilvorlage für ihren schmalen Roman Das Geschenk aufgegriffen und die Folgen von Tag 1 bis 435 äußerst fantasievoll ausgemalt. Herausgekommen ist eine klug komponierte Polit- und Gesellschaftssatire, bissig, zoologisch wie botanisch lehrreich, entlarvend und urkomisch, wobei mir das Lachen oftmals im Hals steckengeblieben ist.

Herausragend, aufrüttelnd und unbedingt lesenswert!

Gaea Schoeters: Das Geschenk. Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing. Zsolnay 2025
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay-c-71

Jane Gardam: Tage auf dem Land

  Mühsal der Pubertät

Marigold Daisy Green wächst – vermutlich in der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – in einem kalten Küstenort in Yorkshire, so abgelegen, dass man nicht einmal richtig Fernsehen empfangen kann, unter außergewöhnlichen Umständen auf. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt verstorben, was ihr, wie sie meint, etwas Prinzessinnenhaftes verleiht. Ihr Vater William Green, ein sanftmütiger, schweigsamer und zerstreuter Intellektueller, leitet das altmodische Jungeninternat St Wilfrid‘s. Er wird heimlich von den Schülern Bill genannt, daher Marigolds Spitzname „Bilge“, „Bills gelungene Tochter“, im Original „Bilgewater“, eine Bezeichnung für Leckwasser im Schiffsrumpf, sogenannte „Kieljauche“.

Die Aufmerksamkeit der zupackenden 36-jährigen Hausmutter Paula Rigg, einer Farmerstochter aus Dorset mit orkanhafter Durchsetzungsfähigkeit, muss sich Marigold seit ihrer Geburt mit 40 Internatsschülern teilen. Gerecht, fürsorglich, aber nicht übertrieben mütterlich, hält Paula nichts von Äußerlichkeiten und duldet keinerlei Selbstmitleid.

Vater und Tochter Green gelten als skurril, ihr Sozialleben beschränkt sich auf die Donnerstagsrunden des Vaters mit ebenso kauzigen, hochbetagten Kollegen. Marigold, die vor allem die langen, schweigsamen Schachpartien mit ihrem Vater liebt, leidet unter ihrem Außenseiterdasein und hält sich für hässlich, dumm und nicht liebenswert.

Jane Gardam: Tage auf dem Land. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Hanser Berlin.

Enttäuschte Hoffnungen
Als Marigold 17 Jahre alt ist und sich trotz anderer, unerkannter Alternativen ganz der Schwärmerei für den attraktiven Schulsprecher Jack Rose hingibt, kehrt ihre glamouröse und geheimnisvolle Kindheitsfreundin Grace Gathering wie eine Verheißung an ihre Schule zurück. Plötzlich fällt etwas von deren Glanz auf sie. Grace nimmt sich Marigolds Garderobe und ihrer leuchtend orangefarbenen Locken an, und als Marigold eine Wochenend-Einladung zur Familie von Jack Rose erhält, dessen Mutter angeblich ihre verstorbene Mutter kannte, scheint ein anderes Leben in greifbare Nähe zu rücken.

Doch es kommt ganz anders, denn die Besuchstage halten eine Kette von Katastrophen für Marigold bereit. Das vermeintliche Landhaus entpuppt sich als abweisende Vorortvilla mit Zahnarztpraxis, der Empfang ist kalt und vor allem ist sie nicht der einzige Gast. Turbulente Stunden mit Anklängen an Schauerromane brechen an, komödienhaft für die Leserschaft, doch voller Enttäuschungen und Ernüchterung für Marigold, die sich fortan Abstinenz von Liebe, Männern und Freundschaft schwört.

Mehr Charakterstudie als Spannungsgeschichte
Tage auf dem Land
ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, im Original bereits 1976 und nun, kurz nach dem Tod der in Deutschland spät entdeckten britischen Autorin Jane Gardam (1928 – 2025), erstmals in der Übersetzung von Monika Baark auf Deutsch erschienen. Thematisch könnte man einen Jugendroman vermuten, zahlreiche literarische Anspielungen und die Fokussierung auf durchweg exzentrische Charaktere statt auf einen echten Plot machen das Buch jedoch eher zu einer Lektüre für Erwachsene.

Eine geniale Hörbuchsprecherin
Ich habe mir den trotz der Zuneigung der Autorin zu ihrer Protagonstin nie sentimentalen Roman Tage auf dem Land in der ARD-Audiothek in gut acht, meist unterhaltsamen Stunden vorlesen lassen. Die herausragende Schauspielerin und Sprecherin Sonja Beißwenger lebt die Rolle der Marigold, überbrückt Längen und unterstreicht mit ihrer Interpretation genau das, was mir an dem Buch gefallen hat: den unvergesslichen Charakter der hinreißenden Ich-Erzählerin mit ihrer fehlenden Menschenkenntnis und grotesken Weltfremdheit, ihrer herausragenden Intelligenz und Fantasie, ihrer Ehrlichkeit und Selbstironie, ihren Sehnsüchten, ihrem Snobismus und dem typisch britischen Humor in ihrem detailreichen Gedankenstrom.

Das Buch ist 2025 im Verlag Hanser Berlin erschienen.

Jane Gardam: Tage auf dem Land. Übersetzung: Monika Baark. Sprecherin: Sonja Beißwenger. Eine Koproduktion von NDR Kultur, MDR Kultur und hr2-kultur in der ARD-Audiothek. 2025
www.ardaudiothek.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Jane Gardam auf diesem Blog:

Alex Schulman: 17 juni

   Flashback

Mit dem Roman 17 juni knüpft Alex Schulman thematisch an seine früheren fiktionalen Bücher Die Überlebenden und Endstation Malma an, aber auch an seine familienbiografischen Werke Skynda att älska über seinen Vater, Glöm mig über seine Mutter und Verbrenn all meine Briefe über seine Großeltern. Im Mittelpunkt steht ein einsames, schutzloses Kind aus einer dysfunktionalen Familie, dessen verdrängte Traumata tief ins Erwachsenenleben hineinwirken. Der Erwachsene möchte verstehen, wie er zu dem werden konnte, der er ist, woher seine plötzliche Wut kommt und sucht Versöhnung.

Die Wiederholung der immer gleichen Parameter, zu denen auch das vermeintlich idyllische Sommerhaus in Värmland gehört, könnte langweilig sein, fände Alex Schulman nicht immer wieder neue Versuchsanordnungen. In 17 juni sorgen ein ebenso geniales wie gespenstisches Gedankenexperiment und eskalierende Besessenheit für Spannung.

Warum?
17 juni
ist im Aufbau weniger komplex als Endstation Malma, aber ebenso raffiniert komponiert. Zwei Handlungsstränge laufen in zwei Zeitebenen parallel, bis sie schließlich zusammenfinden.

In der Gegenwart wird das unspektakläre Leben des 45-jährigen Stockholmer Lehrers Vidar Åkeby auf den Kopf gestellt, als er wie aus dem Nichts und ohne sich später daran zu erinnern einen 13-jährigen Schüler misshandelt. Vidar ist Single, sein Vater längst verstorben, die Mutter im Pflegeheim und zur älteren Schwester Tora war der Kontakt nie eng und ist nahezu eingeschlafen. Er ist nicht unglücklich, weder einsam noch besonders sozial und glaubt sich mit sich und seiner Kindheit im Reinen:

Jag var funktionell och mådde ganska bra. Det var inget med mig. (S. 28)

[Ich funktionierte und fühlte mich ziemlich gut. Mit mir war alles in Ordnung.]

Vom Schuldienst suspendiert, widmet er sich vergessenen Kartons aus der väterlichen Wohnung. Als ihm zufällig die Telefonnummer des längst aufgegebenen Sommerhauses der Familie in die Hände fällt, ruft er, einer spontanen Eingebung folgend, dort an, und sein Vater antwortet.

Fortan werden die Anrufe in die Vergangenheit zur Obsession. Einmal pro Tag zu unterschiedlichen Uhrzeiten meldet sich Vidar mit immer neuen Namen und Anliegen, spricht mit seinem Vater, seiner misstrauischen, dominanten Mutter, der desinteressierten Tora und schließlich mit seinem achtjährigen Ich. Er landet immer im gleichen Tag, dem 17. Juni 1986, und niemand kann sich an seine vorhergehenden Anrufe erinnern.

Doppelte Eskalation
Während die polizeilichen Untersuchungen drängender werden und Vidar durch Missachtung des Kontaktverbots seine Schuld noch vergrößert, arbeitet er immer besessener an der lückenlosen Dokumentation des Sommertags. Je mehr er rekonstruiert, desto sicherer ist er, dass der 17. Juni 1986 ein Schlüssel zum Verständnis seiner Gegenwart ist. An der Fototapete mit der sonnendurchfluteten Waldlichtung in seinem Wohnzimmer kleben im Koordinatensystem aus Uhrzeit und Familienmitglieder hunderte Notizzettel, aber es klafft  auch eine Lücke…

Alex Schulman: 17 juni. Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Albert Bonniers Förlag.

Viele vertraute Puzzleteile
17 juni
gehört, wie alle Bücher des 1976 geborenen schwedischen Erfolgsautors, Podcasters, Kolumnisten, Theaterregisseurs und Filmemachers Alex Schulman, zum Genre ”verklighetslitteratur”, in der sich Fakten und Fiktion mischen. Man kann die autobiografischen Anteile aus dieser düsteren Kreuzung zwischen Zeitreise und Psychotherapie herauslesen, muss es aber nicht. Erschütternd sind die zärtlichen Bemühungen des Erwachsenen, das Kind zu schützen und ihm Selbstvertrauen zu geben, versöhnlich der Erklärungsansatz zu den Verletzungen der Mutter, hoffnungsvoll die Annäherung der Geschwister.

Alex Schulman auf der Frankfurter Buchmesse 2023. © B. Busch

Wer, wie ich, gerne in den Schulman-Kosmos eintaucht und Spaß am Wiederentdecken vertrauter Puzzleteilen aus früheren Büchern hat, kann sich auf die deutsche Ausgabe 2026 freuen. Ich konnte nicht warten, obwohl die Übersetzerin Hanna Granz den besonderen Schulman-Sound wunderbar trifft, habe mir den Roman sofort nach dem Erscheinen in der schönen Buchhandlung Wessman & Pettersson in Visby gekauft und ihn wie immer verschlungen.

Alex Schulman: 17 juni. Albert Bonniers Förlag 2025
www.albertbonniersforlag.se

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

        Schulman 

Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten

   Eingeweideschau

Ein Roman über vier Generationen einer Familie und ein ganzes Jahrhundert ist üblicherweise ein dicker Wälzer mit penibel recherchierten Details und gegebenenfalls fiktionaler Überbrückung von Leerstellen. Es geht aber auch ganz anders. Anna Maschik, 1995 geborene Autorin aus Österreich, die bisher Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht hat, schafft ein solches Panorama auf nur 232 großzügig gesetzten Seiten in Fragmenten und lässt Leerstellen bewusst offen oder füllt sie mit magischem Realismus. Das mag ungewöhnlich klingen und ist es natürlich auch, aber es gelingt dermaßen gut, dass ihr Erstling Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten zurecht als einer von sechs Titeln auf der Longlist zum Debütpreis im Rahmen des Österreichischen Buchpreises 2025 steht.

Vier Frauen prägen die Familie
Anna Maschik konzentriert sich in ihrem von der eigenen Familiengeschichte inspirierten Roman ganz auf die Frauen. Henrike, Bäuerin auf einem Hof an der deutschen Nordsee, geboren am 1. Januar 1901, die den jüngeren Brüdern früh die Mutter und im Krieg auf dem Hof Mann und Sohn ersetzen muss, schlachtet aus Not illegal Schafe, weil die im Gegensatz zu Schweinen still sterben. Ihre Tochter Hilde will keinesfalls Bäuerin werden, heiratet einen österreichischen Soldaten und leidet unter Heimweh. Miriam, die dritte in der Reihe, entkommt nur knapp Hildes Abtreibungsversuch und erzieht ihre Tochter Alma, allwissende Ich-Erzählerin des Romans, allein.

Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Luchterhand.

Alma wiederum spürt dem Schicksal ihrer Vorfahrinnen, aber auch der Vorfahren nach, die bei jedem Todesfall auftauchen und die Sterbenden in Empfang nehmen. Ständige Begleiterinnen sind außerdem Anna, die Hebamme, und Nora, die Totenfrau, die, wie Alma bei Miriams Tod erstmals bemerkt, „einander sehr ähnlich sehen“ (S. 230). Indem sie die Bruchstücke zusammenträgt, in den Innereien wühlt, wie Henrike einst in den Innereien der geschlachteten Schafe, ergründet sie die Auswirkungen vergangener Leben auf ihr eigenes und was ihr in die Wiege gelegt wurde:

Ich möchte mich vorstellen, ich bin Alma, und meine Erzählung ist eine Eingeweideschau. Leber, Lunge, Herz und Magen werden auf ihre Beschaffenheit untersucht. (S. 8)

Familienerbe
Vieles wiederholt sich. Henrike und Hilde singen nur für eines ihrer Kinder Schlaflieder, die benachteiligten beneiden ihre Geschwister, während diese wiederum unter ihrer Verantwortung leiden. Erst Miriam durchbricht die Kette, indem sie dem Drängen von Alma nach einem Geschwisterkind nicht nachgibt. Alle Frauen haben ein schwieriges Verhältnis zu ihren Töchtern, jedoch eine besondere Beziehung zur Natur und zu Gärten. Henrike, Hilde und Miriam sind gefangen in Sprachlosigkeit, bei Hilde und Miriam von ihren Müttern verordnet, im Buch spürbar durch unbedruckten Raum. Alma bricht dieses Schweigen, indem sie fragmentarisch die Familiengeschichte aufschreibt, in Anekdoten und in Listen, einer weiteren Besonderheit dieses Romans:

SYNONYME FÜR »FRÜHER «:
Im Norden
Im Krieg
Im Dorf
Daheim (S. 102)

Obwohl ich magischen Anteilen in Geschichten sonst eher kritisch gegenüberstehe, haben sie mich hier überhaupt nicht gestört, sondern im Gegenteil die Realität in eigentümlicher Weise verstärkt: ein Sohn, der die ersten 15 Jahre seines Lebens verschläft, ein anderer, der zum Wolf wird und ein dritter, der verholzt, oder Miriam, die am Ende ihres Lebens – ein wunderschönes Bild – als Zitronenbaum erblüht.

Anna Maschik ist mit ihrem innovativen, manchmal springenden Erzählstil, ihrer Sprachsensibilität und vielfältigen Metaphern ein ganz außerordentliches Debüt gelungen. Eine neue Stimme, auf deren weitere Werke ich sehr gespannt bin.

Anna Maschik: Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Luchterhand 2025
www.penguin.de/verlage/luchterhand-literaturverlag

Peter Huth: Aufsteiger

 Kurskorrekturen

Die Karriere des ehrgeizigen Journalisten Felix Licht kannte bisher nur eine Richtung: nach oben. Dafür hat er Familie, Privatleben und Gesundheit hintangestellt und lebt in Erwartung weiteren Aufsteigens auf zu großem Fuß. Um den Gipfel in Gestalt des Chefredakteurspostens bei der bedeutenden Wochenzeitschrift „Das Magazin“ zu erreichen, schreckt er auch vor Königsmord an seinem Mentor, Förderer und Freund Richard Leck nicht zurück, doch kommt ihm der mit der Kündigung zuvor. Seit das Blatt vom neureichen Ehepaar Christian und Charlotte Berg übernommen wurde, die ihr Riesenvermögen mit Kleidung für Neurechte gemacht haben und dieses Image nun unbedingt loswerden möchten, rückt Felix‘ Ziel in immer greifbarere Nähe, nun ist er sich seiner Sache sicher:

Er fühlte sich wie ein Alpinist, der im Schatten eines gewaltigen Berges aufgewachsen war und nun nach vielen Jahren und Aufstiegsversuchen nur noch wenige Meter bis zum Gipfel vor sich hatte, das Ziel fest im Blick. Er war viel zu nah dran, als dass er noch scheitern könnte. (S. 35)

Peter Huth: Aufsteiger. Foto & Collage: © B. Busch. Cover: © Droemer.

Verkalkuliert
Der Schlag trifft ihn ebenso unvorbereitet wie hart, plötzlich ist nicht nur Richard Leck, sondern auch Felix Licht ein alter weißer Mann. Ihm, der sich mit seinen 48 Jahren noch zum journalistischen Nachwuchs im besten Alter zählte, wird dank der Fürsprache von Charlotte Berg ausgerechnet die 31-jährige woke, schwarze Zoe Rauch vorgezogen, eine Frau mit einem „ausgezeichneten Ruf in genau dem Milieu, das das Magazin bislang strikt ablehnte“ (S. 76). Vor zwölf Jahren war sie seine begabteste Volontärin. Um ein Haar wäre er damals ihrer Schönheit und ihrem Charme erlegen und hätte für sie sein „Spießerleben“ (S. 71) riskiert. Nun ist sie plötzlich wieder da – unter umgekehrten Vorzeichen, aber ebenso anziehend. Innerhalb weniger Stunden bricht für Felix Licht alles zusammen: Karriere, Ansehen, Familie. Warum also nicht auf das Angebot des rechten Hetzbloggers und Anwalts Cornelius Sentheim eingehen und auf Diskriminierung wegen Alters, Geschlechts und Hautfarbe klagen, um wenigstens die finanziellen Probleme abzufedern?

Auf und Ab
Aufsteiger
ist ein Roman aus der Berliner Medienwelt, der mich zunächst in Bann gezogen hat. Der Prolog in den Räumen der Gerichtsmedizin macht neugierig, die Niederlage des selbstmitleidigen Ehrgeizlings Felix Licht erzeugt Schadenfreude und die Schilderung der prekären Lage der Printmedien ist interessant. Dass der 1969 geborene Autor Peter Huth heute Unternehmenssprecher bei Axel Springer ist und früher als Journalist unter anderem Chefredakteur der B.Z. und der Welt am Sonntag war, steht für tiefe Kenntnis der bundesdeutschen Medienszene.

Allerdings flaute meine Begeisterung im Mittelteil deutlich ab, denn die Diskussionen in der Redaktion und den rechtspopulistischen sozialen Medien über Klimakleber, Windkraft, Indianer, Gendersternchen und Transpersonen wirken – wenn auch nicht abschließend gelöst – entsetzlich abgedroschen. Ausgetauscht werden altbekannte Argumente, die mich  angesichts der schweren aktuellen Krisen wie Ukraine- oder Gazakrieg noch weniger ineressieren als damals und mit denen ich mich einfach nur gelangweilt habe. Gestört hat mich außerdem, dass es durchgängig nur radikale Charaktere gibt, die zudem jedes erdenkliche Klischee erfüllen: radikal ehrgeizig, geltungssüchtig, (pseudo-)feministisch, rechtspopulistisch, wertefrei, selbstmitleidig, reich…, keinerlei Grautöne, und für mich damit ohne Möglichkeit zur Anknüpfung.

Im letzten Teil hat mich die Handlung allerdings wieder eingefangen, weil die extremen Wendungen den Roman dann doch an den Rand der Satire rücken. Insgesamt war Aufsteiger daher, nicht zuletzt wegen des dynamischen Schreibstils und des Clous im Epilog, doch eine lohnende Lektüre für mich.

Peter Huth: Aufsteiger. Droemer 2025
www.droemer-knaur.de

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub

  Von wegen igitt!

Nach neun wirklich tollen Romanen für Kinder gibt es mit Staub nun das erste erzählende Bildersachbuch von Silke Schlichtmann, dieses Mal erschienen im Tulipan Verlag. Wer wie sie mühelos gut verständliche Erklärungen für Begriffe wie „Palindrom“ oder „Dimethylsulfid“ in Kinderromane einbauen kann, ist geradezu prädestiniert für ein spannendes Sachbuch. Dass es kein weiterer Band über Ritter, Piraten, Bauernhof oder Dinosaurier geworden ist, hat mich nicht überrascht, denn originelle Einfälle sind typisch für Silke Schlichtmann. Aber ausgerechnet Staub? Igitt!, mag man zunächst rufen und an den Hausputz denken, aber weit gefehlt. Einst selbst „eine klassische Staub-weg-Wünscherin“, bringt sie dieser Materie inzwischen gefühlt ebenso viel Empathie entgegen wie den kleinen Heldinnen und Helden ihrer Romane und hat sich vor allem ein Ziel gesetzt: dem meist ungeliebten Staub zu einem besseren Ruf zu verhelfen. Um zu zeigen, „was Staub so aufregend und klasse macht“, hat sich die promovierte Literaturwissenschaftlerin als Quereinsteigerin tief in die Staubforschung eingelesen und lässt erwachsene Vorleserinnen und Vorleser, aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer ab sechs Jahren und selbstlesende Grundschulkinder auf ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Weise an ihrem neuerworbenen Wissen und ihrer ansteckenden Faszination teilhaben.

Foto: © B. Busch. Cover: © Tulipan.

„Ohne Staub wäre vieles nichts.“
Auf 38, von Maja Bohn reich, äußerst fantasievoll, witzig und trotz der grauen Materie knallbunt bebilderten Seiten erklärt Silke Schlichtmann, warum der selbst in Reinräumen noch vorhandene Staub absolut unverzichtbar ist: „fürs Wetter, fürs Klima, fürs Essen, für die Kunst, die Wissenschaft, die Schönheit und, und, und“. Zu jedem dieser staubrelevanten Bereiche gibt es anschauliche Erklärungen, kindgerechte Beispiele und manchmal sogar Anleitungen zu einfachen Experimenten. Wie immer nimmt Silke Schlichtmann ihre Zielgruppe ernst, schreckt auch vor komplizierteren Begriffen wie „Mikrokosmos“, „Tyndall-Phänomen“, „Kehrblechparadox“, „Partikelatlanten“ oder „Kieselgur“ nicht zurück, vereinfacht nicht mehr als nötig und fordert zum Mitdenken heraus. Dass es dabei nie – pardon, dämliches Wortspiel – staubtrocken wird, ist ihrem quicklebendigen und fantasievollen Erzählstil, ihrer Begeisterung für die Materie, der direkten Ansprache aus der Ich-Perspektive und den genialen Illustrationen zu verdanken.

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub. © Tulipan.
Silke Schlichtmann am 18.02.2020 in Stuttgart. © B. Busch

Wer nach der Lektüre Staub noch immer doof findet, dem ist nicht mehr zu helfen. Ich habe jedenfalls viel dazugelernt und bin dadurch zum Staubfan geworden – mindestens bis zum nächsten Hausputz… Und eines weiß ich genau: Dieses geniale erzählende Sachbuch wird im Kinderzimmerregal – nochmals pardon –  garantiert nicht verstauben.

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Staub. Tulipan 2025
www.penguin.de/verlage/tulipan

 

Weitere Rezensionen zu Kinderbüchern von Silke Schlichtmann auf diesem Blog:

                 

Francesca Melandri: Kalte Füße

  Geschichte als „ominöses Spiegelkabinett“

Mit dem Beginn des Angriffskriegs von Wladimir Putin auf die souveräne Ukraine im Frühjahr 2022 tauchten in den Medien geografische Namen auf, die der 1964 geborenen italienischen Autorin Francesca Melandri aus anderem Zusammenhang bekannt waren: aus Anekdoten und Mythen ihres Vaters vom „Rückzug aus Russland“ im Winter 1942/43, der sich, wie sie nun begriff, vorwiegend in der Ukraine abspielte. Der Plünderungsfeldzug in die Kornkammer des Ostens, der „Krieg für Brot“, den die Italiener ab Sommer 1941 an der Seite Nazi-Deutschlands führten, ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation weitgehend verschwunden. Dagegen hält sich hartnäckig und in bequemer Selbsttäuschung die nationale Opfererzählung vom Rückzug in eisiger Kälte mit unzureichendem Schuhwerk, die dem großen Betrug Mussolinis, der verbrecherischen deutschen Wehrmacht und den russischen Bolschewisten zuzurechnen sind.

Geschichten und Geschichte
Francesca Melandri geht in Kalte Füße zurück zum Holodomor in der Ukraine 1932/33, als aufgrund einer von Stalin provozierten Hungersnot über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer starben. Sie streift die kolonialen Verbrechen Italiens während des Äthiopienkriegs, die im Zentrum ihres sehr empfehlenswerten Romans Alle, außer mir stehen. Zu Beginn von Mussolinis Russlandfeldzug im Sommer 1941 an der Seite der Wehrmacht war Francesca Melandris Vater Franco Melandri (1919 – 2012), Journalist, bekennender Faschist und Leutnant der Alpini, in Griechenland stationiert. Als er im Sommer 1942 in der Ukraine ankam, waren ein Großteil der Juden und Widerständler bereits liquidiert. Die russische Gegenoffensive ab Dezember 1942 zwang die Italiener zum legendären Rückzug. Nur einer von zehn italienischen Soldaten kehrte zurück, darunter Franco Melandri. Nach monatelangem Lazarettaufenthalt wurde er nach Jugoslawien versetzt. Noch Ende März 1945 verfasste er einen glühenden Artikel für den Faschismus, der seine Tochter bis heute fassungslos macht. Mit Unterstützung seines ehemaligen Journalistenkollegen und Partisanen Massimo Rendina (1920 – 2015), den er gerettet hatte und der ihn als „anständigen Faschisten“ bezeichnete, wurde er schließlich rehabilitiert.

© B. Busch

Brief an den toten Vater
Francesca Melandri hat dieses Buch in Form eines Briefes an den Vater, den sie liebte, nicht als seine Richterin oder Anwältin verfasst, sondern in dem Wunsch, zu verstehen: den Vater, der außer in Anekdoten nicht über Krieg und Faschismus sprach, aber auch die Parallelen und Unterschiede zwischen „seinem“ Krieg und dem heutigen. Kalte Füße ist weder „nur“ Roman noch Biografie oder Sachbuch, sondern ein interessanter Genremix, klug aufgebaut, manchmal etwas im Kreis drehend und sehr emotional, ein glühendes Statement für die Ukraine und gegen die zögerliche Ignoranz derer, die Krieg nicht aus eigener Erfahrung kennen und die Tragödie mit warmen Füßen aus der Distanz verfolgen.

Ich habe mir Kalte Füße in der ARD-Audiothek ungekürzt in 570 Minuten von der hervorragenden Nina Kunzendorf vorlesen lassen, deren Intonierung der Anrede „Papa“ mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken gejagt hat. Obwohl ich ihr sehr gerne zugehört habe, weil sie den Text langsam und gut akzentuiert liest, habe ich gelegentlich das gedruckte Buch vermisst, um Gedankengänge zu wiederholen und mein eigenes Tempo zu wählen.

Gastlandauftritt Italiens auf der FBM 2024 mit einer Veranstaltung des Pen Berlin e.V.: Birgit Schönau (Moderation), Francesca Melandri, Antonio Scurati und Paolo Giordano (von links). Fotos: © B. Busch.

Kalte Füße ist eine hochaktuelle, sehr empfehlenswerte Mischung aus Familien- und Zeitgeschichte, eine Reflexion über Schuld und Verantwortung sowie ein glühendes Plädoyer gegen den aggressiven imperialistischen Kolonialismus Russlands und für Demokratie.

Das Buch ist 2024 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen.

Francesca Melandri: Kalte Füße. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Gelesen von Nina Kunzendorf. Eine Produktion von NDR-Kultur und Bayern 2 in der ARD-Audiothek. 2024
www.ardaudiothek.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Francesca Melandri auf diesem Blog:

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte

 Bei den Nenzen

Nicht nur in Kanada (Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel) oder in Schweden (Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht) wurden indigene Kinder zwangsweise von ihren Eltern getrennt, auch die Sowjetunion verfuhr in gleicher Weise. Die aus Nordwestsibirien stammende, 1951 geborene Autorin Anna Nerkagi, die zur Minderheit des als Rentier-Nomaden umherziehenden Volkes der Nenzen gehört, wurde mit sechs Jahren von den Behörden zur Umerziehung in einem Internat untergebracht. Im Gegensatz zu vielen anderen kehrte sie nach einem Studium 1980 zurück und gründete 1990 eine Schule für nenzische Kinder in der Tundra, in der sie auch unterrichtet.

Weiße Rentierflechte ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman einer nenzischen Autorin und handelt von den schmerzlichen Lücken, die die Wegziehenden hinterlassen, der Konfrontation traditioneller indigener Lebensweise mit der Moderne und der Entfremdung zwischen den Generationen.

Eine Hochzeit wie eine Beerdigung
Das kleine Nomadenlager im Roman besteht nur noch aus zwei kegelförmigen Wohnzelten, sogenannten Tschums, seit ein Jahr zuvor Lamdo, die Frau von Petko, gestorben ist. Wo keine Frau mehr über das Feuer wacht, muss der Mann Unterschlupf bei Nachbarn suchen, denn obwohl die Frauen in völliger Unterordnung leben, sind sie die unbestrittenen Herrinnen des Tschums und seines Feuers. Petkos Tochter Ilne ist seit sieben Jahren nicht mehr zu Besuch gekommen und nicht nur der Vater, der sich in Einsamkeit und Resignation auf seinen Tod vorbereitet, auch der Nachbar Aljoschka, dem sie sich einst versprochen hatte, leidet an gebrochenem Herzen.

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Fotos & Collage: © B. Busch. Cover: © Unionsverlag.

Doch nun kann sich der 26-jährige Aljoschka, der seiner großen Liebe aus Verantwortung für die Familie und die Tradition nicht in die Stadt folgte, dem Drängen der Mutter und der Gemeinschaft zur Hochzeit mit einem für ihn in einem anderen Nomadenlager ausgesuchten Mädchen nicht mehr entziehen:

Das hier ist eine Beerdigung und keine Hochzeit. Heute beerdigt er das, was in ihm lebte, verborgen vor anderen, süß, quälend und freudvoll – das Liebste und Strahlendste, das er in seinem Leben erfahren hat.
Er beerdigt seine Liebe. (S. 11)

Äußerlich beugt sich Aljoschka, aber er rebelliert still, indem er das Mädchen nicht anrührt und sich die Möglichkeit ihrer Rückgabe an die Familie offenhält. Ihr, seiner Mutter und der nenzischen Gemeinschaft fügt er damit eine große Kränkung zu, die die Frauen mit Klugheit und Ausdauer zu überwinden versuchen.

Eine literarische Perle
Anna Nerkagi erzählt diese äußerst bewegende, nur 165 Seiten umfassende Geschichte über das mit der Verantwortung für die Gemeinschaft kollidierende Glück des Einzelnen und den Generationenkonflikt vor dem Hintergrund der archaischen Lebensweise und der Mythen traditioneller Rentier-Nomaden, deren Überleben in menschenfeindlicher Umgebung nur durch Zusammenhalt möglich ist. Ebenso lehrreich wie gut verständlich sind die 14 Seiten umfassenden Erläuterungen, Kleines ABC des nenzischen Lebens im Anhang. In dichter, ruhiger, poesievoller Erzählweise vermittelt der im russischen Original bereits 1996 erschienene Roman tiefe Einsichten in eine unbekannte Welt. Die erste deutsche Ausgabe in der ausgezeichnet zu lesenden Übersetzung von Rolf Junghanns erfolgte 2021 im Verlag Faber & Faber mit Fotos des brasilianischen Fotografen und Friedenspreisträgers Sebastião Salgado, die Taschenbuchausgabe von 2024 stammt aus dem Unionsverlag.

„Vieles, was über kleine Völker geschrieben wird, ist eine Fantasie von Leuten, die durch ein Fernglas auf das Ufer schauen“, schrieb der tschuktschische Autor Juri Rytchëu (1930 – 2008). Für Richard Wagamese, Ann-Helén Laestadius und Anna Nerkagi gilt das glücklicherweise nicht, was ihre Bücher umso wertvoller und höchst lesenswert macht.

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Unionsverlag 2024

 

Rezension zu einem weiteren Roman mit Bezug zum Volk der Nenzen auf diesem Blog:

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

  Der Preis der Weisheit

Während der Bau der Berliner Mauer im Sommer 1961 die deutsche Teilung zementierte, herrschte in den USA Aufbruchsstimmung. Mit John F. Kennedy stand seit Jahresbeginn ein junger Präsident an der Spitze, erste Radiosender strahlten Sendungen auf UKW in Stereo aus und das Profi-Baseballteam der Minnesota Twins spielte seine erste Saison.

Niemand in der fiktiven Kleinstadt New Bremen, Minnesota, war auf die dramatischen Ereignisse vorbereitet, die das Leben ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und insbesondere der methodistischen Pastorenfamilie Drum so grundlegend erschüttern sollten:

Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. (Prolog, S. 9)

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Piper.

Das Ende der Unschuld
Aus der Distanz von 40 Jahren erzählt Frank Drum weitgehend chronologisch vom schicksalhaften Sommer 1961, als er 13-jährig an der Schwelle zum Erwachsensein stand und zugleich doch ein impulsives, abenteuerlustiges, von den Geschehnissen überfordertes Kind war, das schwer unterscheiden konnte zwischen dem, was es wusste, und dem, was es zu wissen glaubte. Immer an seiner Seite war sein zwei Jahre jüngerer Bruder Jack, ein für sein Alter weiser, ruhig beobachtender Junge, ein stotternder Außerseiter. Beide liebten und bewunderten die 18-jährige Schwester Ariel, auf deren außergewöhnlicher musikalischer Begabung alle mütterlichen Hoffnungen ruhten.

Ruth, die unruhige Mutter, die Hausarbeit, ihr Dasein als Pastorengattin und den unerschütterlichen Glauben ihres Mannes verabscheute, trauerte einer eigenen Musikerinnenkarriere nach. Nathan, ihrem Mann, stand zu Beginn ihrer Verbindung eine glänzende Anwaltskarriere bevor, bis er nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg alles für das Kirchenamt aufgab, um seine nicht näher beschriebenen schweren Traumata in Schach zu halten. Er ist nur einer von mehreren psychisch oder körperlich versehrten Kriegsrückkehrern im Roman. Sein Kamerad Gus, der zum Leidwesen von Ruth Teil der Familie geworden war, betäubte seine Erinnerungen mit Alkohol und war Nathan und seinen Söhnen Freund und Vertrauter.

Nach dem Tod des Kindes beim verbotenen Spiel auf den Gleisen drangen verwirrende Gerüchte an Franks Ohr. War es denkbar, dass der Tod kein Unfall, sondern Selbstmord oder gar Mord war? Zum Grübeln blieb keine Zeit, denn schnell gab es einen weiteren Toten. Die Einschläge rückten immer näher an die Familie heran, deren labiles Gleichgewicht schwer ins Wanken geriet. Doch nicht nur bei den Drums, auch in der zunehmend aufgewühlten Kleinstadt taten sich Abgründe auf und unterdrückte Spannungen traten offen zutage.

Ein Pageturner
Trotz der Todesfälle und der Tatsache, dass der 1950 in Wyoming geborene William Kent Krueger in seiner Heimat ein Bestseller-Krimiautor ist, ist Für eine kurze Zeit waren wir glücklich ein literarischer Entwicklungs- und Familienroman sowie ein sehr gelungenes Gesellschaftsporträt einer US-amerikanischen Kleinstadt zu Beginn der 1960er-Jahre und keine reine Spannungslektüre. Der Auflösung habe ich trotzdem entgegengefiebert und lag, obwohl man sie früher hätte erahnen können, lange falsch.

Die nostalgisch-leise und schmerzhafte Geschichte über Verlust und Trauer, Glaube und Zweifel, Schuld, Vergebung, menschliche Schwächen, Klassenunterschiede, Rassismus und Neuorientierung wird glaubhaft aus der Perspektive eines 13-Jährigen erzählt, gepaart mit der abgeklärten Ruhe des Abstands von vier Jahrzehnten. Den von Tanja Handels in ein angenehmes Deutsch übertragene Roman konnte ich, einmal begonnen, kaum noch aus der Hand legen.

William Kent Krueger: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich. Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Handels. Piper 2013
www.piper.de